Das größte wissenschaftliche Rätsel: wieso können wir uns nicht mehr in Kinder hineinversetzen, wo wir doch alle selber mal eins waren?
Nein, in der Überschrift ist kein Wortdreher. Andersherum wird dieses Thema wahrscheinlich häufiger von verzweifelten Eltern gegoogelt: „Ab welchem Alter können sich Kinder in andere hineinversetzen?“ Dahinter steckt nicht selten die Hoffnung, dass das Kind bald von selbst versteht, warum man es morgens manchmal eilig hat – und man sich die end- und fruchtlosen Debatten irgendwann einfach spart. Aber ich möchte in diesem Blogpost wirklich auf die Frage hinaus, wann Eltern sich eigentlich in ihre Kinder hineinversetzen. Ich denke nämlich, dass das wir Eltern das seltener tun, als es den meisten von uns bewusst ist. Und dass es häufiger einen Versuch wert ist.
Vor allem Eltern von Kleinkindern kennen solche Situationen: Das Kind braucht STUNDEN, um sich Socken anzuziehen. Einfach nur SOCKEN!!! Fürs Frühstück muss es unbedingt der rote Teller sein, jede andere Farbe ist vollkommen inakzeptabel. wenn man dennoch darauf besteht, dass die Farbe doch keinen Unterschied macht, führt das bloß dazu, dass der ungewünschte Teller in die Ecke gepfeffert wird. Kann man beim gemeinsamen Frühstück die Müllabfuhr vorbeifahren hören, ist an eine Fortführung der gemeinsam Mahlzeit erstmal nicht mehr zu denken. Und auf dem Weg zum Kindergarten löst jeder vorbeilaufende Käfer Begeisterungstürme aus, als hätte das Kind ein Einhorn gesichtet, oder der Yeti. „Was geht in solchen Momenten in dem Kind nur vor“, fragen wir uns.
Wann können Kinder begreifen, was andere denken?
Aber erstmal zum aktuellen Stand der Kognitionsforschung: Eine Studie aus Leipzig kommt zu dem Schluss, dass sich Kinder erst ab etwa vier Jahren wirklich in die Denkweise anderer hineinversetzen können. „Theory of Mind“ ist der Fachbegriff für diese Fähigkeit. Erst wenn eine bestimmte Gehirnregion ausgereift ist, was eben mit etwa vier Jahren der Fall ist, können Kinder wirklich begreifen, was andere denken. Dr. Charlotte Grosse Wiesmann forscht dazu am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften und hat mit Kolleg*innen im März 2020 Studienergebnisse dazu veröffentlicht. Theory of Mind ist übrigens nicht das selbe wie Empathie: Verstehen, wie andere Personen sich fühlen, können Kinder schon früher, ab etwa zwei Jahren. Kleine Kinder in dem Alter können Emotionen bereits an der Mimik erkennen, und teilweise auch passende Reaktionen zeigen (z.B. trösten, pusten, etwas abgeben). Zu verstehen, welche Emotionen ein anderer Mensch zeigt, ist aber nicht das gleiche wie zu wissen, was dieser Mensch denkt.
Wir Erwachsene können das. Seit wir etwa vier Jahre alt sind. Wir können uns in andere Menschen hineinversetzen. Wir können ihre Sorgen, Probleme, Erfolge und Glücksmomente verstehen und mit ihnen teilen, wenn wir uns dazu entscheiden. Und wenn wir so vorfreudig darauf warten, dass unsere Kinder diesen Meilenstein in ihrer Entwicklung ebenfalls erreichen – da stelle ich mir die Frage, ob wir selbst diese Fähigkeit eigentlich häufig genug nutzen. Zum Beispiel gegenüber unseren eigenen Kindern. Wie häufig versetzen wir uns eigentlich in sie hinein?
Kinder können noch nicht durch unsere Augen sehen – aber wir durch ihre!
Um zu den Beispielen oben zurückzuführen: es ist für uns Erwachsene wirklich oft schwierig, nachzuvollziehen, was an der Müllabfuhr so spannend sein soll, dass sie einen vom Essen abhält. Weil wir es bereits zum x-ten Mal erleben. Wir haben uns in unserer eigenen Kindheit schon unzählige Käfer und Ameisen aus der Nähe angesehen. Wir haben uns schon mehr als 10.000 Mal die Socken selbst angezogen. Und wir haben in unserem Leben von so viel unterschiedlichem Geschirr gegessen, dass es für uns keinen Unterschied mehr macht. Aber für Kinder ist das alles noch neu und aufregend!
Ich nehme mir selbst vor, und empfehle es auch anderen Elternteilen, das in Zukunft öfter mal zu probieren. Am besten natürlich dann, wenn man auch die Zeit hat, sich darauf einzulassen. Denn dann können daraus auch tolle Spielideen entstehen. Also: Einfach mal die innere Pippi Langstrumpf rauslassen!
Bildcredit: Photo by Marjorie Bertrand on Unsplash

